ARD Kontraste

Familiennachzug Geflüchteter: Erpresserische Methoden?

Tausende Geflüchtete mussten vor Gericht ziehen, bis das Auswärtige Amt ihren Familien den Nachzug erlaubte. Das zeigen Recherchen von Kontraste und Recherchepartnern. Die Bedingungen des Ministeriums nennen Anwälte erpresserisch.

Tesfay Haile (Name geändert) ist aus Eritrea nach Europa geflüchtet, seit 2017 lebt er in Berlin. Seine Frau und die vier Kinder wollte er nachholen, um ihnen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu ersparen. Doch daraus wurde eine jahrelange Odyssee: Seine Familie flüchtete zunächst in das Nachbarland Äthiopien. Zwei Jahre vergingen, bis sie bei der dortigen deutschen Botschaft einen Termin erhielten, ein drittes Jahr bis zur Ablehnung.

Denn das Auswärtige Amt zweifelte an, dass Haile und seine Frau verheiratet sind. Eine kirchliche Heiratsurkunde, wie in Eritrea üblich, ließ es nicht gelten. Zeitgleich mit der Ablehnung brach in Äthiopien ein Bürgerkrieg aus, Haile hatte große Angst um seine Familie, beschreibt diese Zeit gegenüber Kontraste als „Hölle“.

Die einzige Chance: Er zog gegen das Auswärtige Amt vor Gericht. Schon beim ersten Gerichtstermin bot ihm dieses einen Vergleich an: Er solle die Klage zurückziehen und sämtliche Verfahrenskosten übernehmen, dafür würden im Gegenzug die Visa erteilt. Haile ließ sich darauf ein und muss nun 3400 Euro bezahlen, sagt er. Das sei mehr als doppelt so viel, wie er im Monat in seinem Job bei einem Versandhandel verdiene. Er sagt aber auch: „Ich hatte keine andere Wahl.“

„Berliner Erpressung“

Wie Haile ergeht es Tausenden Geflüchteten. Anwälte beobachteten das Vorgehen so häufig, dass sie ihm Namen gegeben haben. Sie sprechen vom „Berliner Vergleich“, manche auch von „Berliner Erpressung“.

Bislang war das Phänomen kaum greifbar. Doch nun geben unveröffentlichte Zahlen des Auswärtigen Amtes Einblicke in das, was seit Jahren mit Regelmäßigkeit geschieht, wenn deutsche Botschaften auf der ganzen Welt Anträge für Familienzusammenführungen ablehnen. Die interne Statistik ab dem Jahr 2007 liegt dem ARD-Politikmagazin Kontraste und seinen Recherchepartnern Ippen Investigativ und der Transparenzplattform FragDenStaat vor.

Sie offenbart ein Muster: Wenn Klagen über den Familiennachzug zu einer nachträglichen Visumserteilung führten, geschah dies meist ohne Urteil - in rund 95 Prozent dieser Verfahren. 5855 Mal war dies demnach der Fall. Das Auswärtige Amt knüpfte die Visavergabe offenbar systematisch an Bedingungen: Die Betroffenen sollten ihre Klage zurückziehen und in den meisten Fällen auch die Kosten des Verfahrens tragen - und das, obwohl deutsche Behörden ihre vorherigen Entscheidungen damit faktisch korrigierten. Weil das Bundesministerium seinen Sitz in Berlin hat, landeten diese Verfahren allesamt beim dortigen Verwaltungsgericht.

Auswärtiges Amt weist Vorwurf zurück

„Wenn das Auswärtige Amt im Verfahren feststellt, dass die Ablehnung rechtswidrig war und daher nicht erfolgen durfte, dann ist das im Grunde die Erkenntnis, dass da eine Menschenrechtsverletzung vorliegt“, sagt der Anwalt Christoph Tometten. Er fordert, dass die Behörden dann auch die Kosten dafür tragen. Mit dem „Berliner Vergleich“ nutze das Auswärtige Amt die Zwangslage der Familien aus, so Tometten.

Das SPD-geführte Auswärtige Amt weist die Vorwürfe auf Kontraste-Anfrage zurück. Die Übernahme der Verfahrenskosten sei gesetzlich geregelt, die Visastellen hätten nicht die Absicht, den Nachzug von Familien zu unterbinden. Familienzusammenführung sei, in vielen Fällen, ein gesetzlich und teilweise sogar grundgesetzlich verbriefter Anspruch.

Offiziellen Zahlen zufolge erteilt Deutschland für den Familiennachzug pro Jahr im Schnitt rund 100.000 Visa und lehnt rund 20.000 Anträge ab. Nur in wenigen Fällen komme es zu Klagen, so das Ministerium gegenüber Kontraste. Laut der Statistik klagten seit 2007 insgesamt aber immerhin mehr als 20.000 Familien - fast jede dritte davon erfolgreich.

Familien warten Jahre

Diejenigen, die erst mit einem „Berliner Vergleich“ aus dem Gerichtsverfahren gingen, beklagen mitunter dramatische Folgen. Das zeigen Berichte von Betroffenen, mit denen Kontraste und Ippen Investigativ gesprochen haben. Tesfay Haile etwa sagt, er sei depressiv geworden, weil er seine Kinder so lange nicht sehen konnte. „Ich wusste ja nicht, wann meine Familie kommt, ob sie überhaupt kommen darf.“

Bei der Verhandlung im Sommer spielte sein Anwalt Julius Engel der Richterin ein Hochzeitsvideo des Paares vor - als weiteren Beleg für die Ehe. Jetzt erst bewegte sich das Auswärtige Amt. Seit kurzem leben Hailes Frau und die vier Kinder bei ihm in Berlin, nach vier Jahren Wartezeit.

Sein Anwalt Julius Engel rät Mandanten schon aus zeitlichen Gründen, den Vergleich anzunehmen. Klageverfahren, die mit einer Visavergabe nach einer Einigung endeten, dauerten im Schnitt etwa 300 Tage, Verfahren mit einem für die Betroffenen positiven Gerichtsurteil mehr als 150 Tage länger.

Kein Urteil, keine Präzedenz

Anwalt Tometten beklagt beim „Berliner Vergleich“ einen weiteren Effekt: „Das heißt, dass es in solchen Fällen dann auch kein Urteil gibt und insofern auch keine Präzedenzwirkung.“ Eine solche sei bei Visumverfahren zwar nicht rechtlich vorgeschrieben, dennoch „in besonderem Maße vorhanden“ - schon deshalb, weil sämtliche Klagen vor demselben Verwaltungsgericht in Berlin verhandelt würden.

Am „Berliner Vergleich“ werde die Politik der Bundesregierung geradezu symptomatisch deutlich, so die Linken-Vorsitzende Janine Wissler gegenüber Kontraste. Das Auswärtige Amt erschwere den Familiennachzug bewusst. „Das ist aus rechtsstaatlicher Sicht ein sehr problematisches Verfahren, weil wenn man am Ende in all diesen Fällen - wenn diese Zahlen so sind - einen Vergleich eingeht, dann hat man ja offensichtlich den Eindruck, dass man das Gerichtsverfahren nicht gewinnen kann.“

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg, in der vergangenen Legislaturperiode Sprecherin für Flüchtlingspolitik ihrer Fraktion, sieht Anzeichen für ein strukturelles Problem: Entscheidungen, die auf Behördenebene getroffen werden sollten, würden schlussendlich vor Gericht gefällt. „Dafür gibt es eine politische Lösung, die heißt: das Personal in Botschaften aufzustocken“

Tatsächlich teilt das Auswärtige Amt auf Anfrage mit, es habe Maßnahmen ergriffen, um Visastellen personell zu verstärken, und werde dies weiter tun. Zum konkreten Umfang dieser Pläne und dem zeitlichen Rahmen machte es keine Angaben.

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