Titelbild für Kontraste vom 30.03.2023. Collage: rbb/Kontraste
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Im Visier des Kreml - Russische Spionage gegen Deutschland

Die Festnahme des BND-Mitarbeiters Carsten L. war das vorläufige Ende eines der größten Spionageskandale in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein solcher Verrat sei das Unangenehmste, was einem Nachrichtendienst passieren kann, so BND-Präsident Kahl im Interview mit Kontraste. In der 30-minütigen Doku "Im Visier des Kreml – Russische Spionage gegen Deutschland" zeichnet Kontraste den spektakulären Verratsfall detailliert nach. Kontraste-Reporter folgen zudem weiteren Spuren der russischen Geheimdienste in Deutschland. Im Fokus von Putins Agenten steht dabei besonders das Berliner Regierungs- und Parlamentsviertel. Ob durch Hackerangriffe der Gruppe "Ghostwriter", Verleumdungskampagnen gegen die Bundeswehr in Litauen, Lauschangriffe vom Dach der russischen Botschaft oder den klassischen Einsatz von Agenten, die beispielsweise Bundestagsabgeordnete ansprechen: Verfassungsschutzpräsident Haldenwang sieht die Spionage aus Russland bereits wieder auf einem Niveau wie im kalten Krieg. Im Interview mit Kontraste erklärt er, warum er davon ausgeht, dass Putins Agenten ihre Anstrengungen hierzulande künftig sogar noch ausweiten könnten.

Deutschland im Visier russischer Geheimdienste. Hunderte Agenten sind hier im Einsatz.

Haldenwang: "Wir befinden uns auf einem Niveau wie zu Zeiten des Kalten Krieges."

Im Fokus: das politische Berlin.

Kiesewetter: "Ich gehe aus dem Haus raus, wurde sehr freundlich von der Seite angesprochen: Ach hallo, wie geht's?"

Aus Russlands Botschaft schaut man direkt in die Büros deutscher Abgeordneter.

Grundl: "Das ist das Mittel der Spionageabwehr…"

Putins Agenten schrecken selbst vor Mord nicht zurück – mitten in der Hauptstadt.

Bruno Kahl, BND-Präsident

"Die russischen Dienste gehen sehr, sehr rücksichtslos vor in dem, was sie hier erreichen wollen."

Und nun wurde auch noch ein russischer Maulwurf enttarnt – im Herzen des BND.

Erich Schmidt-Eenboom

"Ich denke, das ist der größte Erfolg, den die Nachrichtendienste unter Putin je erzielt haben."

Dieser Film erzählt unter anderem die Geschichte des mutmaßlichen BND-Verräters Carsten L. – mit Hilfe von nachgestellten Szenen. Stand der Recherchen ist Ende März 2023. Der Beschuldigte wollte sich uns gegenüber nicht zu dem Fall äußern.

Es ist das vorläufige Ende eines der größten Spionagefälle in der Geschichte der Bundesrepublik: Kurz vor Weihnachten nehmen BKA-Beamte Carsten L. in Berlin fest.

Der Vorwurf: schwerer Landesverrat und Spionage für Russland. Carsten L. ist hochrangiger Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes. Seit seiner Festnahme sitzt er in Untersuchungshaft in München-Stadelheim.

Im Herbst erreichte BND-Präsident Bruno Kahl der Tipp eines westlichen Geheimdienstes.

Bruno Kahl, BND-Präsident

"Ich entsinne mich noch an den ersten Moment, wo mein Vizepräsident mir sagte: Wir müssen mit unserem Partner reden, der hat schlechte Nachrichten für uns. Und ab dem Moment war man natürlich, war man natürlich angespannt, und dann gab es ein Mosaiksteinchen nach dem anderen, bis wir dann wussten, es gibt Verrat. Das ist so mit das Unangenehmste, was einem Nachrichtendienst passieren kann."

Monatelang haben wir den Fall zusammen mit dem ARD-Hauptstadtstudio und der Wochenzeitung "Die Zeit" recherchiert.

Holger Stark, stellv. Chefredakteur "Die Zeit"

"Die BND-Affäre ist eine Geschichte, wie sie eigentlich John le Carré für einen Roman auch hätte nutzen können, so wild und in gewisser Weise so irre, dass sie auch den Ermittlern selber am Anfang surreal vorkam. Zu einem Zeitpunkt, wo Krieg in der Ukraine ist, ist innerhalb des BND bei ganz Vielen als undenkbar erschienen, dass einer aus den eigenen Reihen ausgerechnet den Russen Kriegsgeheimnisse verrät."

Weilheim, südlich von München. Hier wohnt der 52-jährige Carsten L. – gut bürgerlich im Einfamilienhaus. Er ist verheiratet, hat Kinder. Und trainiert die Jugend im örtlichen Fußballverein. Warum setzt so jemand alles aufs Spiel?

In Weilheim wohnt auch Erich Schmidt-Eenboom – einer der profiliertesten deutschen Geheimdienstkenner. Er versucht nun, in seiner Nachbarschaft das Rätsel um Carsten L. zu ergründen.

Erich Schmidt-Eenboom

"Also die Menschen, die mit mir gesprochen haben, schilderten ihn als ausgesprochen dynamisch, sportlich sehr engagiert, war bekannter Fußballtrainer im TSV, kommandierte da schon heftig beim Training, aber wurde von seinen Schützlingen auch sehr hoch geschätzt."

Hoch geschätzt war L. auch beim BND. Seit 2007 arbeitet er in Pullach für den Dienst, abgeordnet von der Bundeswehr. L. ist beim BND in der "Technischen Aufklärung" tätig – der Abhörabteilung. Zuletzt als Referatsleiter im Rang eines Oberst.

Erickh Schmidt-Eenboom

"Carsten L. hatte Zugang zu allen Erkenntnissen des Bundesnachrichtendienstes aus der technischen Aufklärung, also Satellitenaufklärung, Fernmeldeaufklärung, Computerspionage und dergleichen."

Holger Stark

"Er war mehrmals im Afghanistankrieg unterwegs. Er hatte die Lizenz zum Tragen einer Waffe. Er verfügte über einen Diplomatenpass. Also er war jemand, auf den man so gebaut hat, dass man ihn buchstäblich an die Front gesendet hat."

Carsten L. ist politisch stramm rechts. Laut unseren Recherchen, spendet er im Jahr 2015 100 Euro an die AfD. Im Jahr darauf noch einmal die gleiche Summe.

Holger Stark

"Die Ermittler gehen davon aus, dass bei Carsten L. eine schleichende Radikalisierung stattgefunden hat, dass er in den vergangenen Jahren, auch während der Coronakrise, sukzessive abgedriftet ist. Es fallen Aussagen, die man klar als Rassismus bezeichnen müsste, insbesondere über Geflüchtete, über Menschen mit dunkler Hautfarbe."

Zur örtlichen AfD – hier Videoaufnahmen von der Eröffnung eines Bürgerbüros – pflegt Carsten L. einen persönlichen Draht: Mit dem Funktionär S. ist er befreundet. Man kennt sich über die Kinder. S. dient als Hauptfeldwebel in dieser Kaserne nahe des Starnberger Sees. Die Bundeswehr bildet hier IT- und Fernmelde-Experten aus.

Wir erreichen den AfD-Mann am Telefon. Er bestätigt, Carsten L. zu kennen, verweigert aber sonst jede Auskunft. "Sie wollen sich also nicht äußern, alles klar."

Dabei hätte S. einiges zu erklären. Nach unseren Recherchen gab er an Himmelfahrt 2021 im Vereinsheim des TSV Weilheim ein kleines Fest. Zur Feier hatte S. auch Carsten L. eingeladen. Ihm soll er dort einen Bekannten vorgestellt haben, der später für den Landesverrat eine zentrale Rolle als Kurier spielen wird: Arthur E., ein damals 30-jähriger Russland-Deutscher. Auch Arthur E. diente als Fernmelder in der Nähe des Starnberger Sees. 2015 entfernte er sich aber unerlaubt von der Truppe – angeblich, um in Russland mit Diamanten zu handeln. Er wird deshalb ausgeschlossen. Danach beginnt für Arthur E. offenbar ein schillerndes Leben mit Reisen rund um den Globus – mitunter im Privatjet.

Im Netz finden wir von ihm Bewertungen zu hunderten Restaurants und Hotels: Westafrika, Süd- und Nordamerika – und immer wieder: der Großraum Moskau.

Rund ein Jahr soll er hier im Luxushotel Ritz-Carlton residiert haben. Arthur E. handelt mit Diamanten und Rohstoffen. Außer in Deutschland finden wir Firmen von ihm in den USA, in Dubai und Nigeria. Immer wieder zeigen Aufnahmen Arthur E. zusammen mit afrikanischen Diplomaten und Geschäftsleuten. Auch in Russland baut er sich ein Netzwerk auf, das bis zu politischen Amtsträgern reicht.

Holger Stark

"Arthur E. ist eine Person, die ich als Glücksritter bezeichnen würde, wo nicht ganz klar immer war, wer eigentlich seine Finanziers sind, wo dieses Geld herkommt, welche Geschäfte er selber betreibt, was möglicherweise auch nur eine toll aussehende, glänzende Kulisse gewesen ist. Jemand, der ganz erkennbar auch ein gewisses Interesse hatte, in die Welt der Geheimdienste vorzustoßen."

Und mit Carsten L. hat er nun einen Bekannten beim BND. Die beiden Männer treffen sich im vergangenen Jahr mehrfach – so berichten es uns Ermittler. Auch anhand von Arthur. E's Spuren im Netz lassen sich Aufenthalte in Weilheim nachvollziehen. So bewertete er etwa einen Gasthof, ganz in der Nähe von Carsten L's Wohnhaus.

Bei einem Treffen bringt Arthur E. dann offenbar einen weiteren Bekannten ins Spiel, den er aus Moskau kennt: Visa M., ein schwerreicher russischer Geschäftsmann mit guten Kontakten in den Kreml – und wohl auch zum russischen Geheimdienst FSB.

Am 12. September soll sich das Trio am Starnberger See getroffen haben, im Strandlokal Hugos, wo man in solchen Séparées in luxuriöser Atmosphäre entspannt geheime Gespräche führen kann. Hier entsteht offenbar der Plan zum Landesverrat.

Holger Stark

"Der russische Oligarch hat gesagt, es wäre ja auch möglich, dass man den beiden Ländern etwas Gutes tun könnte. Carsten L. soll daraufhin ebenfalls sinngemäß erwidert haben, möglicherweise habe er ja auch etwas, das von Interesse sei. Und offensichtlich ist in diesem Austausch die Idee entstanden, dass ja da eine Art Deal, ein Geschäft auf beidseitigem Nutzen entstehen könnte."

Unmittelbar danach soll Carsten L. in seinem Büro geheime Informationen vom Bildschirm abfotografiert haben. Andere Dokumente lässt er sich offenbar von einer Kollegin besorgen. Es geht um Kommunikation von russischen Militärs, die der BND infiltriert hatte.

Laut Ermittlern spaziert Carsten L. einige Tage später mit den Dokumenten aus dem BND. Dabei trägt er Tracht, er will noch auf das Oktoberfest. Ein Landesverrat in Lederhose. Das geheime Material soll er an Arthur E. in unmittelbarer Nähe zum Pullacher BND-Standort übergeben haben.

Holger Stark

"All das ist irre dilettantisch, irre riskant, wenn es denn so stattgefunden hat. Offensichtlich dachten die Verräter, dass sie einfach nicht erwischt werden."

Bruno Kahl, BND-Präsident

"Wir werden uns systematisch angucken müssen, was bei uns falsch gelaufen ist. Wir haben ja sowohl im operativen als auch in der Sicherheit Regeln, die beachtet werden müssen. Und hier sind einige verletzt worden."

Von München aus fliegt Arthur E. mehrfach als Kurier mit den geheimen Unterlagen über Istanbul nach Moskau. Dort soll er die Dokumente an den FSB übergeben haben. Für den russischen Geheimdienst ist der Zugang zur hochrangigen BND-Quelle ein Volltreffer.

Erich Schmidt-Eenboom

"Wenn man so eine Schlüsselposition gewinnt und wenn diese Schlüsselfigur dann noch bei Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen abschöpft und weitere Informationen beibringt, dann hat man wirklich den Königs-Ansatz von menschlicher Spionage auf seiner Seite."

Und die Russen zeigen sich erkenntlich: Sie übergeben dem Kurier Arthur E. Umschläge mit Bargeld. Insgesamt sollen bis zu 400.000 Euro geflossen sein. Bei einer Rückreise Anfang Oktober wird Arthur E. am Flughafen München von einem weiteren BND-Beamten in Empfang genommen. Ein enger Kollege von Carsten L. Der schleust Arthur E. am Zoll vorbei und bringt ihn über einen speziellen Ausgang aus dem Flughafen.

Holger Stark

"Diese Eskorte ist sogar offiziell innerhalb des BND beantragt worden. Sie findet sich in den Akten wieder. Sie ist von Vorgesetzten abgezeichnet worden. Die Aktenkundigkeit stellt die Frage: Ist das ganz besonders dreist gewesen, weil man dachte, quasi unter den Augen der Vorgesetzten so eine Nummer durchziehen zu können? Oder aber gab es weitere Mitwisser?"

Auch gegen den Beamten, der Arthur E. am Flughafen abholt, laufen mittlerweile Ermittlungen. Beim Bundesnachrichtendienst aber ahnt man zunächst nichts von dem Verrat.

Im September 2022 wird Carsten L. nach Berlin versetzt. Hier soll er den Bereich "Personelle Sicherheit" übernehmen. Zuständig, ausgerechnet, für die Sicherheitsüberprüfungen der rund sechseinhalb Tausend BND-Mitarbeiter.

Erich Schmidt-Eenboom

"In seiner nächsten vorgesehenen Position wäre er noch deutlich wertvoller gewesen, weil er da Einblick gehabt hätte in Verwundbarkeiten von BND-Angehörigen. Das heißt, er hätte so eine Funktion gehabt, die die Nachrichtendienste Tipper nennen. Er hätte die russischen Nachrichtendienste auf ansprechbare BND-Leute hinweisen können, weil er deren Schwächen kannte."

Nur dank eines westlichen Geheimdienstes fliegt der Verrat schließlich auf. In einem internen Kommunikationskanal russischer Militärs entdeckt der Dienst geheime Dokumente des BND. Ab da ist klar: Es muss einen Maulwurf bei den Deutschen geben. Die Spur führt BND-Ermittler schließlich zu Carsten L.

Holger Stark

"Das ist für den BND unglaublich peinlich und eine Blamage. Es gibt im Ausland bei westlichen Verbündeten einen Witz: Wie kann man am besten den Russen eine Information zukommen lassen? Indem man sie mit dem BND teilt."

Bruno Kahl, BND-Präsident

"Es sind Fehler gemacht worden, und wer den Schaden hat, braucht dann für den Spott nicht mehr zu sorgen."

Ende Januar wird auch der Kurier Arthur E. festgenommen. Er kommt gerade mit einem Flug aus Miami. Jetzt übernehmen ihn Beamte des Bundeskriminalamtes, nachdem ihn zuvor schon das FBI verhört hatte. Im Gegensatz zu Carsten L. zeigt sich Arthur E. gesprächig. Die Ermittler gehen mittlerweile nicht mehr davon aus, dass er gezielt vom russischen Geheimdienst auf Carsten L. angesetzt wurde.

Bruno Kahl, BND-Präsident

"Ich habe den Eindruck, dass beide Seiten, sowohl der Beschuldigte als auch die russische Seite, eher hier in einen Verratsfall hineingestolpert sind mit relativ viel Ungeschick oder Glück, wie man‘s jeweils sehen will."

Ein immenser Schaden für den BND. Und doch: Es hätte noch weitaus schlimmer kommen können.

Holger Stark

"Wäre es den Russen gelungen, im Innersten des BND einen Verräter zu platzieren, der dort über Monate und Jahre Informationen geliefert hätte, dann wäre es ein Desaster unvorstellbaren Ausmaßes geworden."

Der Fall Carsten L. ist besonders brisant – und doch nur die Spitze des Eisbergs, was russische Spionage in Deutschland betrifft. Im Visier vor allem: das Berliner Regierungsviertel. Mittendrin, am Boulevard Unter den Linden, liegt die russische Botschaft. Hier und in seinen Konsulaten hat Russland mehr als 540 Diplomaten akkreditiert. Experten schätzen, dass ein Drittel davon in Wahrheit für den Geheimdienst arbeitet.

Maik Pawlowsky ist Chef der deutschen Spionageabwehr. Doch gegen die zahlreichen als Diplomaten getarnten Agenten kann er wenig ausrichten.

Maik Pawlowsky, Leiter Spionageabwehr Bundesamt für Verfassungsschutz

"Der entscheidende Vorteil für diese Abtarnung ist, dass diese Personen strafrechtliche Immunität genießen. Das heißt, sie können in Deutschland spionieren, aber der Staat kann diese Personen nicht strafrechtlich verfolgen. Wenn man sie auf frischer Tat ertappt, besteht nur die Möglichkeit, sie des Landes zu verweisen."

Die Botschaft, ein russischer Geheimdienststandort mitten im deutschen Parlamentsviertel. Direkt gegenüber arbeitet der SPD-Politiker Frank Schwabe. So schön die Aussicht auch ist, er fühlt sich hier wie auf dem Präsentierteller.

Frank Schwabe (SPD), Bundestagsabgeordneter

"Die drüben können uns auch sehen und hören wahrscheinlich jetzt. Hallo…? Es ist schon eine seltsame Situation. Was sie da treiben, weiß ich nicht. Aber man weiß, sie könnten. Sie könnten was treiben, wenn sie wollten. Also, die Technik ist heute so, dass man alles mitkriegen kann, was wir, was wir hier tun, was wir hier besprechen."

Schwabe ist Menschenrechtspolitiker. Immer wieder empfängt er Dissidenten zu vertraulichen Gesprächen. Und um die macht er sich Sorgen.

Frank Schwabe (SPD), Bundestagsabgeordneter

"Bei mir geht es um den Schutz konkreter Personen, die in Russland oder um Russland herum als Oppositionelle, als Menschenrechtsaktivisten tätig sind. Und ich möchte einfach nicht, dass durch den Kontakt mit mir die einer Gefährdung ausgesetzt sind."

Ein Stockwerk höher sitzt der grüne Kulturpolitiker Erhard Grundl. Er hatte den Verfassungsschutz bei sich im Büro. Die Beamten rieten ihm, seinen Schreibtisch vom Fenster wegzudrehen.

Erhard Grundl (Bündnis90/ Die Grünen), Bundestagsabgeordneter

"Der sicherheitsrelevante Punkt war natürlich immer, die Bildschirme nicht unbedingt vom Fenster her einsehbar zu halten. Die Kabel-Maus ist schon immer State-of-the-Art hier im Büro gewesen, um nicht so leicht abgefischt werden zu können."

Denn kabellose Bluetooth-Verbindungen gelten als besonders anfällig für Spionage. Ansonsten bleibt Grundl nur der Griff zur Jalousie.

"Das ist das Mittel der Spionageabwehr…" – "Dass sie zumindest nicht reinschauen können?" – "Genau!"

Dass von der russischen Botschaft aus tatsächlich abgehört wird, daran hat Deutschlands oberster Verfassungsschützer Thomas Haldenwang keinen Zweifel.

Thomas Haldenwang, Präsident Bundesamt für Verfassungsschutz

"Da können wir davon ausgehen, dass bei den zahlreichen Aufbauten, die man auf den Dächern der Botschaft sieht, dass da durchaus eben auch Einrichtungen dabei sind, die dem Zweck dienen, Kommunikation aufzufangen. Insofern ist äußerste Vorsicht geboten."

Das gilt auch für dieses Bundestagsgebäude. Es grenzt direkt an die Botschaft Russlands, man sitzt hier Mauer an Mauer. So wie der Finanzpolitiker Matthias Hauer von der CDU.

Matthias Hauer (CDU), Bundestagsabgeordneter

"So, hier sind wir direkt an der Grenze quasi. Hier ist die Wand Richtung russische Botschaft. Und deshalb ist unser Gebäude hier von besonderem Interesse."

"Das heißt, hier, direkt dahinter, sitzt die russische Botschaft?"

Matthias Hauer (CDU), Bundestagsabgeordneter

"Genau. Schöne Grüße nach Moskau!"

Matthias Hauer (CDU), Bundestagsabgeordneter

"Wenn es um russische Themen geht, dann nutzen wir auch schon mal andere Büros und machen das eben nicht hier aus diesem Gebäude."

Doch Lauschangriffe aus der Botschaft sind nur eine Methode der russischen Geheimdienste.

Thomas Haldenwang, Präsident Bundesamt für Verfassungsschutz

"Russland arbeitet bei der Spionage mit den klassischen Mitteln, mit dem Einsatz von Agenten und Spionen. Man bahnt Kontakte an, man versucht Personen abzuschöpfen im politischen Raum. All das gelingt natürlich gerade im politischen Umfeld von Berlin ganz besonders gut."

Wie so eine Anbahnung eingefädelt wird, hat der Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter vor einigen Jahren selbst erlebt.

Roderich Kiesewetter (CDU), Bundestagsabgeordneter

"Ich gehe aus dem Haus raus, wurde sehr freundlich von der Seite angesprochen: Ach hallo, wie geht's? Sag ich, ja kennen sie mich? Hmm, weiß nicht. Sag ich, ja wer sind Sie denn? Ja, ich heiße Siwow. Sag ich, ja, was machen Sie so? Und dann sagte er, dass er in der russischen Botschaft arbeitet. Und dann sag ich, ja was? Ja, ich bin auch Soldat, ich bin Oberst. Sag ich, ach, das bin ich auch, gewesen. Und dann stellte sich heraus, dass es der russische Verteidigungsattaché war."

Mit Namen Andrej Siwow, offiziell Diplomat und inoffiziell wohl in Diensten des Militär-Geheimdienstes GRU. Es ist ein gängiges Muster: Auf ein wie zufällig arrangiertes Kennenlernen folgen erste Einladungen.

Thomas Haldenwang, Präsident Bundesamt für Verfassungsschutz

"Wenn das funktioniert, wird aus dem Kaffeetrinken schnell ein Abendessen. Die russische Seite bezahlt immer. Es folgen Einladungen zu Kultur- oder Sportveranstaltungen. Die Eintrittskarten hat zufällig der russische Agent irgendwoher bekommen und kann sie verschenken. Und so entsteht ein immer intensiverer Kontakt und es werden immer mehr Gefälligkeiten sozusagen an den deutschen Partner gegeben, der dann allerdings auch irgendwann mal bereit sein muss, sich erkenntlich zu zeigen."

Und so zieht sich die Schlinge langsam zu. Roderich Kiesewetter hat sich bei dem Anbahnungsversuch der Russen nicht einfangen lassen. In mindestens einem anderen Fall war Militärattaché Siwow aber erfolgreich.

Einer seiner Kontakte wurde erst kürzlich wegen Agententätigkeit für Russland verurteilt. Der ehemalige Reserveoffizier Ralph G. hatte Siwow und anderen Diplomaten Material über die Bundeswehr geliefert. Die Übergabe fand zum Teil direkt in der russischen Botschaft statt. So sicher fühlte man sich offenbar.

In Litauen treffen wir den Journalisten Sergej Kanew. Kaum jemand hat so tiefe Einblicke in Russlands Dienste wie er. Mehrfach enttarnte er bereits Agenten Putins. Deutschland habe dem Treiben der russischen Spione immer viel zu wenig entgegengesetzt, sagt Kanew.

Sergej Kanew, Investigativ-Journalist

"Die deutsche Spionageabwehr wurde belächelt: Ach, die deutschen Trottel! Die russischen Geheimdienste haben sich in Deutschland wie zuhause gefühlt, sie konnten da problemlos arbeiten. Es gab selten Festnahmen. Und wenn die Deutschen durchgegriffen haben, dann in Fällen, wo die Russen maßlos übertrieben haben, quasi nahezu offen spioniert haben."

Erst mit dem Angriff auf die Ukraine hat sich etwas grundlegend geändert. Lange wurde die russische Spionage von der Politik hierzulande toleriert. Doch kurz nach Kriegsausbruch weist die Bundesregierung auf einen Schlag 40 Diplomaten aus – mutmaßliche Spione.

Sergej Kanew, Investigativ-Journalist

"So ein Fiasko hat es für die russischen Geheimdienste schon sehr lange nicht mehr gegeben. Es wurden so viele Offiziere, die spioniert haben und auf Informationen saßen, ausgewiesen."

Maik Pawlowsky, Leiter Spionageabwehr Bundesamt für Verfassungsschutz

"Europaweit sind über 400 russische Nachrichtendienstler des Landes verwiesen worden. Das war schon ein harter Schlag für die russischen Nachrichtendienste und sie werden versuchen, dieses Informationsloch zu kompensieren. Wie genau, lässt sich aktuell noch nicht prognostizieren. Wir gehen aber auch davon aus, dass sie insbesondere auch die Cyber-Aktivitäten verstärken werden."

Schon seit Jahren ist Deutschland das Ziel solcher russischer Cyberangriffe. Es geht um Spionage, womöglich auch um politische Einflussnahme. Der bislang schwerste Angriff richtete sich 2014 gegen den Bundestag. Monatelang flossen Daten aus Abgeordnetenbüros ab.

Derzeit steht eine Gruppe ganz besonders im Fokus der Sicherheitsbehörden. Sie ist bekannt unter dem Namen"Ghostwriter". Im Frühjahr 2021 greift "Ghostwriter" in Deutschland an, Dutzende Parlamentarier sind betroffen, die genaue Zahl ist unbekannt.

Einer von ihnen ist Danny Eichelbaum, Landtagsabgeordneter der CDU in Brandenburg.

Danny Eichelbaum (CDU)

"Ich sitze gerade in der Landtagssitzung und auf einmal ruft mich der Mitarbeiter des brandenburgischen Verfassungsschutzes an und sagt zu mir: Sie sind Opfer eines Phishing-Angriffs eines russischen Militärnachrichtendienstes geworden."

Beim Bundesamt für Verfassungsschutz ist man überzeugt: Hinter Ghostwriter steht der russische Geheimdienst GRU. Die Experten haben auch herausgefunden, wie genau die Hacker vorgegangen sind. Jadran Mesic und sein Team von der "Cyberabwehr" zeichnen einen Angriff für uns nach. Ihr Ziel: das E-Mail-Postfach eines fiktiven Bundestagsabgeordneten. Der erhält jetzt eine Mail, vermeintlich von seinem E-Mail-Anbieter: Das Konto sei genutzt worden, um Spam zu verschicken! Er solle seine Identität bestätigen, indem er sich einloggt – andernfalls werde sein E-Mail-Konto unwiderruflich gelöscht.

Jadran Mesic Gruppenleiter Cyberabwehr, Bundesamt für Verfassungsschutz

"Es wird Druck bei dem Opfer aufgebaut, dass man jetzt schnell handeln muss, sonst ist das Postfach mit allen E-Mails nicht mehr vorhanden."

Die E-Mail ist eine Fälschung, ein sogenannter Phishing-Angriff. Der soll das Opfer dazu bringen, sein Passwort preiszugeben. Befolgt der Abgeordnete die Anweisung, kennen die Hacker nun seine Zugangsdaten, können alles mitlesen – und mehr.

Jadran Mesic Gruppenleiter Cyberabwehr, Bundesamt für Verfassungsschutz

"Ich kann mir die Adressbücher kopieren und ausleiten. Ich kann aber auch den Zugang zu dem E-Mail-Konto nutzen für Folgeaktivitäten, für Desinformationsoperationen. Ich kann mir Zugang verschaffen zu den Social-Media-Accounts." Genau das macht "Ghostwriter". Das zeigt ein Fall aus Polen, nur ein paar Wochen vor der Attacke auf deutsche Abgeordnete.

Die Gruppe kaperte den Twitter-Account eines ranghohen Politikers der regierenden PiS-Partei. Darüber veröffentlichten sie Fotos, die eine Parteifreundin in intimen Posen zeigen sollen. Die Angreifer wollen den Ruf ihrer Opfer ruinieren.

Jadran Mesic Gruppenleiter Cyberabwehr, Bundesamt für Verfassungsschutz

"Durch Hacking-Angriffe erlange ich sensible Informationen. […] Man kann das Bild dieser Person in der Öffentlichkeit verändern und das kann natürlich durchaus Auswirkungen haben, wenn man im Wahlkampf steht und sich um gewisse Posten bemüht."

"Hack and leak" nennt sich diese Methode. So sieht die E-Mail aus, die Danny Eichelbaum erhalten haben soll: Auch er wurde aufgefordert, sein Passwort einzutippen.

Kontraste

"Haben Sie die Daten da angegeben?"

Danny Eichelbaum (CDU), Landtagsabgeordneter Brandenburg

"Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, weil ich nicht mehr nachvollziehen konnte, zu welchem Zeitpunkt ich diese Mail bekommen habe. Ich gehe vom jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass ich die Daten nicht eingegeben habe."

Kontraste

"Könnte es aber sein, dass dieser Angriff letztendlich erfolgreich war und tatsächlich jemand zugegriffen hat auf Ihr Mail-Postfach?"

Danny Eichelbaum (CDU), Landtagsabgeordneter Brandenburg

"Es kann durchaus sein."

Eichelbaum hat sein Passwort geändert, die Unsicherheit aber bleibt.

"Ghostwriter" sei besonders, sagt Jānis Sārts, Direktor des NATO-Zentrums für Strategische Kommunikation in Riga. Die meisten Hacker versuchen, Informationen zu stehlen, doch Ghostwriter reicht das allein nicht.

Jānis Sārts, Direktor NATO-Exzellenzzentrum für Strategische Kommunikation

"Tatsächlich hackt Ghostwriter, um Informationen zu verbreiten. Typisch ist, dass sie eine Falschinformation auf einer echten Nachrichtenseite platzieren oder in einem E-Mail-Austausch, eingebettet zwischen echten Nachrichten. Das versuchen sie dann auszuschlachten."

Wir folgen der Spur von "Ghostwriter" bis nach Litauen. Hier nahmen die Hacker das dort stationierte Bundeswehr-Kontingent ins Visier. 1.000 deutsche Soldaten sichern in Litauen die NATO-Ostflanke, nur 100 Kilometer von Russland entfernt.

2019 platziert "Ghostwriter" in mehreren Nachrichtenportalen Fälschungen: Die deutschen Soldaten sollen einen jüdischen Friedhof geschändet haben. Manipulierte Fotos zeigen ein angebliches Bundeswehrfahrzeug auf dem Friedhof, dazu ein Hakenkreuz, angeblich auf einen Grabstein geschmiert.

Tatsächlich ist auf dem Friedhof in Kaunas nichts dergleichen passiert, den Vorfall gab es nicht. Kopfschütteln in der Nachbarschaft.

"Absolute Propaganda. Nichts, was in Litauen passiert ist."

"So was wird gemacht, um Feindschaft zu säen."

Jānis Sārts, Direktor NATO-Exzellenzzentrum für Strategische Kommunikation

"Die Erzählung ist: Die NATO-Soldaten sind böse Akteure, die nicht von den Menschen hier in der Region unterstützt werden sollten."

Die Bedrohung durch Ghostwriter hält an – auch hierzulande gab es nach Kriegsbeginn weitere Angriffe. Deutschland bleibt im Visier des Kreml. Und künftig könnten Putins Geheimdienste hier sogar noch aktiver werden.

Thomas Haldenwang, Präsident Bundesamt für Verfassungsschutz

"Russland wird alle Methoden nutzen, um seinen Einfluss zu vergrößern, um Erkenntnisse zu gewinnen, um Produkte sich zu beschaffen, die sie für ihre Rüstung auch brauchen. Und insofern müssen sie ihre Aktivitäten ausweiten, auch hier in Deutschland. Darauf müssen wir eingestellt sein."

Film von Andrea Becker, Daniel Hoffmann, Michael Götschenberg, Daniel Laufer und Markus Pohl